Gärtnern: Frühaufsteher mit Kultvergangenheit (2024)

Ich hatte mich wochenlang darüber gewundert, was für merkwürdige Dinge mir meine Internetsuchmaschine anbot, als vergangenes Frühjahr endlich das Päckchen mit den Morning-Glory-Samen ankam. "Whatever the need, we have the seed", stand da drauf, und langsam wurde mir einiges klar. Wer große Mengen Morning-Glory-Samen kauft, kauft oft auch halluzinogene Pilze, Schlafmohnsamen, Cannabispflanzen und den ganzen Krempel, den man für den Konsum dieser Substanzen braucht. Denn, so lese ich jetzt in den entsprechenden Internetforen, auf nüchternen Magen ordentlich zerkaut, entfalten die in den Samen enthaltenen Alkaloide eine ähnliche Wirkung wie LSD. In Mexiko, wo Morning Glory heimisch ist, brauten Maya und Azteken daraus einen Trank, der es ihnen angeblich ermöglichte, mit den Geistern der Vergangenheit in Kontakt zu treten, was den spanischen Eroberern gar nicht gefiel. Sie verboten den Kult, verbreiteten die Früchte dieser Pflanze aber in der ganzen Welt.

Ich habe sie zum ersten Mal im östlichen Sussex am ehemaligen Sommersitz von Virginia und Leonard Woolf gesehen. Es war schon fast Oktober, und es regnete, wie es nur in England regnet. Die engen Straßen waren reißende Flüsse, auf denen man mehr schwamm als fuhr, und, Himmel, dann auch noch Linksverkehr. Gut möglich, dass die schweißtreibende Anreise mich gegen Monk’s House einnahm. Ich fand es jedenfalls furchtbar. Eine düstere Dichterklause, deren aquariumgrün gestrichene Gesellschaftsräume zu allem Überfluss auch noch im Souterrain lagen. Doch stieg man die halbe Treppe hoch in den Garten, stand man im Offenen. Der Blick ging über eine Apfelbaumwiese bis auf die vor Feuchtigkeit dampfenden South Downs. Mein Blick aber versank schon in einem Meer aus schwarzblauen, tütenförmigen Blüten an der Hauswand. Was waren das denn für abgefahrene Wicken?

Keine Wicken, sagte die Gärtnerin des National Trust, sondern eine Winde, deren Blüten sich bereits in den frühen Morgenstunden öffneten und schon am späteren Nachmittag dahin seien. Daher der Name. In Deutschland wird Morning Glory als Kaiser- oder Prunkwinde verkauft, es gibt sie in zahllosen Schattierungen. Besonders geläufig sind die etwas hellere Ipomoea tricolor und die kleine dunkle, auch Schwarze Witwe genannt. Weil ich mir nicht sicher war, welche der beiden mich damals in England so beeindruckt hat, hatte ich beide bestellt, insgesamt 400 Samen. Denn ich ahnte, dass sie es einem nicht so leicht machen würden, wie mitunter geschrieben wird.

Mit den gemeinen Wicken, die man einmal aussät und die dann von allein immer wiederkommen, sind Prunkwinden nicht einmal weitläufig verwandt. Sie besitzen nicht die unordentlich gerüschten Blüten der Schmetterlingsblütler, sondern elegante symmetrische Trichter, die bei der Schwarzen Witwe oft ins Violette changieren. Und sie bilden auch keine Ranken aus, mit denen sie sich an ihren Stützen festhalten. Morning Glory schlingt sich mit ihrem gesamten Hauptspross um ein Rankgerüst oder eine benachbarte Pflanze. Wenn man so will, ist sie die glamouröse zentralamerikanische Schwester unserer Ackerwinde, die die unangenehme Eigenschaft hat, sich immer und überall dazwischenzuschlängeln. Auch wenn man die zartrosafarbenen Blüten der Ackerwinde ganz hübsch findet, sollte man dieses Unkraut nicht gewähren lassen, sonst hat es Ende des Sommers sämtliche Gewächse in seiner Nähe erwürgt.

Ich habe gehört, dass Prunkwinden in tropischen Gefilden ähnliches Unheil anrichten. In unseren Breiten besteht diese Gefahr nicht. Da sind sie nicht einmal winterhart und auch sonst eher zimperlich. In Brandenburg beispielsweise ist es ihnen bis Ende Mai zu kalt und ab Anfang Juli schon zu trocken. So ist mir im vergangenen Jahr die erste Aussaat erfroren und die zweite verdorrt. Genau drei Pflanzen haben es geschafft. Viel Sonne allein hilft leider nicht. Der Boden muss stimmen, also nährstoffreich und dauerhaft feucht sein. Und nach der right plant, right place-Lehre würde ich es lassen. Aber ich hätte an meiner märkischen Bruchbude schon wahnsinnig gerne so eine verwegene Blütenwand wie Virginia Woolf. Deshalb bleiben die vor ein paar Wochen ausgesäten Morning-Glory-Pflänzchen mit den Tomaten auf der Fensterbank und kommen erst Anfang Juni ins Staudenbeet, wo der Boden dieses Jahr schon viel besser ist (Massen an Kompost und Mulch). Läuft alles nach Plan, verdeckt ab Juli ein schwarzblaues Blütenmeer den blöden grauen Kratzputz, den wir schon seit Jahren abklopfen wollen. Und die Samen? Im Oktober absammeln, trocknen und im kommenden Jahr wieder aussäen. So macht’s ja auch die pensionierte Steuerfachwirtin ein paar Häuser weiter, in deren Garten ich vergangenen Sommer eine beneidenswerte Menge Morning Glory entdeckt habe. Davon gehe ich jedenfalls aus.

Was jetzt dran ist: Feuerbohnen, Mangold und Kohl aussäen, auch mal Cime di Rapa, apulischen Stängelkohl, probieren

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